Bauhausarchitekturen und Tageslichtstudien
von Ute Poerschke
Wenn man durch das Bernauer UNESCO Welterbe-Gebäude des Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbunds (ADGB) geht, kann man bemerken, wie schön die Innenräume sich mit der Natur verbinden und wie schön das Tageslicht in unterschiedlichen Varianten die Räume erhellt. Am spektakulärsten ist das im Speisesaal zu erleben, mit seiner wiederhergestellten Glasbausteindecke und dem Übereckblick in das Wäldchen. Diese Tageslichtqualitäten sind kein Zufall, denn das Bauhaus hat sich intensiv mit Tageslicht in der Architektur auseinandergesetzt. Die ADGB-Schule diente dabei nicht nur als Experimentierfeld, sondern erweist sich als Meisterwerk mit außergewöhnlichen Tageslichtsituationen. Für kein anderes Projekt hat sich das Bauhaus so umfassend mit Tageslichtideen auseinandergesetzt.
Unter Walter Gropius’ Direktorat (1919-28) gab es zunächst jedoch nur ein bedingtes Interesse an Tageslicht in der Architektur. Da es noch keinen Studiengang der Architektur gab, besuchten architekturinteressierte Studierende Kurse der Großherzoglich-Sächsischen Baugewerkenschule in Weimar, organisierten sich in eigenen Lerngruppen, oder arbeiteten und lernten im Baubüro Gropius.[1] Dezidierte Tageslichtstudien sind aus dieser Zeit nicht bekannt. Wenn man sich die große Glasfassade des Werkstattflügels des Dessauer Bauhauses, fertiggestellt 1926, ansieht, geht man natürlich davon aus, dass Gropius an Tageslicht interessiert war, denn durch die große transparente Fläche kam reichlich Licht in die Räume. Ein Innenraumfoto der Weberei-Werkstatt, veröffentlicht im Bauhausbuch 12, kommentierte Gropius mit den Worten: „gesunde, gut belichtete arbeitsplätze steigern die leistung!“[2] Kenntnisse, wie Bauten zu orientieren sind, also zum Beispiel, dass Fabrikationshallen oder Kunstateliers am besten mit nach Norden ausgerichteten Verglasungen funktionieren, gehörten zum allgemeinen Fachwissen von Architekten.[3] Der erste Bauabschnitt der Fagus-Werke in Alfeld, entworfen von Eduard Werner und im Büro Gropius mit Fassaden versehen, oder die Atelierräume in den Dessauer Meisterhäusern, zeugen von diesen allgemeinen Kenntnissen.[4] Da aber das Tageslicht in die Werkstätten des Dessauer Bauhausgebäudes von Süd-Westen, Nord-Westen und Nord-Osten, also von drei Seiten eintritt, scheint ein solche strikte, optimierte Orientierung nicht im Vordergrund gestanden zu haben. Vielmehr lag der Fokus auf Ästhetik und Detaillierung der sogenannten „Curtain Wall“, bei der die Fassade nicht mehr die tragende Außenwand bildete, sondern so transparent und leicht wie möglich vor die Konstruktion gehängt wurde. Tageslichtoptimierung ergab sich für Gropius aus dem Interesse an maximaler Transparenz und bedeutete „unter größter ersparnis an konstruktionsmasse, weitgespannte, lichtdurchflutete räume und gebäude zu erbauen“[5].
Sucht man nun aber nach einer Systematisierung von Tageslichtstudien am Bauhaus, so kommen die Basler Architekten Hannes Meyer und Hans Wittwer, sowie der Karlsruher/Berliner Architekt Ludwig Hilberseimer in den Fokus. Meyer begann seine Tätigkeit am Bauhaus im April 1927, baute ein systematisches Architekturstudium auf[6] und wurde ein Jahr später, als Gropius zurücktrat, der zweite Bauhausdirektor. Wittwer führte mit Meyer seit April 1926 ein Architekturbüro in Basel und folgte diesem 1927 ans Bauhaus. Da Wittwer am Bauhaus insbesondere „akustik, licht, wärme und installation“[7] lehrte, ist er eine zentrale Figur, wenn es um Tageslichtstudien geht.[8] Hilberseimer übernahm Wittwers Position als dieser 1929 das Bauhaus verließ; er führte Wittwers Tageslichtstudien weiter bis zur Schließung des Bauhauses 1933, erweiterte sie dabei kontinuierlich und machte aus ihnen einen Schwerpunkt seiner Lehre am Armour Institute of Technology (später Illinois Institute of Technology) nach seiner Emigration in die USA 1938.
Schule für den Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbund in Bernau bei Berlin
Ein Jahr später, als Meyer und Wittwer eine neue Gelegenheit bekamen, eine Schule zu entwerfen, die ADGB-Schule in Bernau, waren ihre Lichtstudien grundlegend anders. Meyer assoziierte mit Bernau „eine schule der sonnentherapie“[16] und man kann darin schon einen wesentlichen Unterschied zu den vorherigen Berechnungen erahnen. Bei der Petersschule ging es um das uniforme, diffuse Tageslicht, nun um direkte Sonneneinstrahlung und damit um den Sonnenlauf an einem spezifischen Breitengrad und zu verschiedenen Jahres- und Tageszeiten.
Wettbewerbsprojekt Petersschule
Vor ihrer Ankunft am Bauhaus hatten Meyer und Wittwer die Wichtigkeit von Tageslicht in der Architektur bereits mehrfach betont. Wittwer hatte zum Beispiel einen Bahnhof in Genf entworfen, über den er schrieb, die Überdachung sei „mit geringstem Lichtverlust als Sheddach projektiert“.[9] Meyer erklärte in seinem Manifest „Die Neue Welt“ von 1926, dass, neben anderem, „Besonnung, natürliche und künstliche Beleuchtung“ die „wegleitenden Kraftlinien“ des Bauens sein sollten.[10] Meyer und Wittwer wurden 1926/27 durch den spektakulären Entwurf einer Mädchenschule in Basel bekannt. Im Wettbewerbsreport stellten sie fest, der Bauplatz sei „absolut ungeeignet für ein neuzeitliches Schulhaus“ – weil er nämlich zu wenig Tageslicht böte. Sie behaupteten, dass nach neuesten Erkenntnissen alle Schulräume Oberlichtbeleuchtung haben sollten und bedauerten, dass in ihrem Projekt „der Rückschritt zum schlechteren Seitenlicht [...] getan werden“ musste.[11] Am Bauhaus angekommen, nutzten sie ihren Wettbewerbsentwurf für ein erstes Statement, wie sie sich die Architekturlehre vorstellten. Die Zeitschrift bauhaus veröffentlichte einen überarbeiteten Entwurf der Schule, der nicht nur Zeichnungen und einen pamphlethaften Text enthielt, sondern auch ein Tageslichtdiagramm und eine ganze Spalte mit Tageslichtberechnungen mit der Überschrift „rechnerischer nachweis der beleuchtungsstärke aller schulräume“ (Abb. 1).[12] Meyer schrieb dazu in einem Brief an Gropius, er „hätte es gerne gesehen, wenn die zugehörigen lichtberechnungen mitveröffentlicht würden,“, denn er sei „der meinung, dass wir unsere neuen formen, die bei funktionellem bauen entstehen, nach möglichkeit bauwissenschaftlich begründen müssen, um dem sonst berechtigten vorwurf der unsachlichkeit zu begegnen“[13]. Meyers Anliegen verdeutlicht die Wichtigkeit der Tageslichtstudien im Projekt als Begründung der Architektursprache.
In den Berechnungen beriefen sich die Architekten auf die Verfahren „nach Higbie“ und „Higbie und Levin“. Henry Harold Higbie war Professor für Ingenieurwesen an der University of Michigan, USA, A. Levin sein Student. Higbie veröffentlichte seine Verfahren im Mai 1925 und März 1926. Die letztere Veröffentlichung enthält ein Kurvendiagramm, das nahezu identisch ist mit demjenigen aus der Bauhauszeitschrift.[14] Aus den Daten folgt, dass die Architekten auf der Höhe der ingenieurmäßigen Kenntnisse über Tageslicht waren, denn sie wussten von einem Verfahren, das mit Bezug auf die Bauhausveröffentlichung gerade mal ein Jahr alt war. Über die Gründe dieser für Architekten ungewöhnlichen Spezialkenntnisse lässt sich nur spekulieren; zum Beispiel ist eine mögliche Zuarbeit von Wittwers Schwager, Dr. Erwin Voellmy (1886-1951), ausgebildet in Mathematik, Physik, und Geographie und engagierter Mathematiklehrer, denkbar, da dieser auch am Wettbewerbsprojekt für den Völkerbund technisch-beratend tätig war (hier allerdings in Bezug auf Akustik).[15]
Der „rechnerische nachweis der beleuchtungsstärke“ war in den 1920er Jahren noch keine etablierte Methode. Eine Hürde war zum Beispiel, dass sich noch keine internationalen Maßeinheiten durchgesetzt hatten. So rechneten Meyer und Wittwer die Beleuchtungsstärke, die Higbie in amerikanischen „footcandle“ angab, in das deutsche „hefner-lux“ um und konstatierten „12 hefner-lux ’lx’ = 1 footcandle“. Die Berechnung, so ihre Schlußfolgerung, erfüllte oder übertraf die Empfehlung der Deutschen Beleuchtungsgesellschaft, “für les- und schreibräume eine mittlere beleuchtung von 50–60 lx“ zu gewährleisten.
Die Beleuchtungsstärke in Räumen ist abhängig von den äußeren natürlichen Lichtverhältnissen, die sich jedoch in jeder Jahres- und Tageszeit, bei unterschiedlichen Sonnenständen und bei einem sonnenklaren oder bedeckten Himmel ununterbrochen verändern. Um dieses Problem zu umgehen und ein einziges Rechenergebnis für die Beleuchtungsstärke eines Punktes in einem Raum zu erhalten, ging Higbie von einem konstanten und uniformen Tageslichtwert aus, der Himmelsrichtungen, Wolkenverhältnisse, direkte Sonneneinstrahlung oder auch Verschattungen durch umgebende Bauten ausschloss. Damit gelang es ihm, eine wissenschaftlich-ingenieurmäßige Methode für Tageslichtberechnungen in Räumen zu etablieren, die als Grundlage zur Einschätzung von Beleuchtungsstärken in Räumen dienen konnte. Allerdings konnte mit diesem Verfahren nicht begründet werden, warum Klassenräume nach Osten oder Zeichensäle nach Norden ausgerichtet sein sollten. Die im überarbeiteten Entwurf der Petersschule nach Norden gedrehten Oberlichter—im Wettbewerb zeigten sie nach Osten—konnten also kein Ergebnis der Berechnung sein.
Drei der vier Wettbewerbspläne von 1928 präsentierten, jeweils auf der rechten Seite, dezidierte Sonnenstudien. Das Blatt mit dem Lageplan (Abb. 2) zeigt die Solargeometrie an den Tagen der Sommer- und Wintersonnenwende sowie der Tag-und Nachtgleiche. Für jeden dieser Tage wurden mittels verschiedener Kreise die stündlichen Sonnenstände (Elevation und Azimut) konstruiert und in einer Tabelle zusammengefasst. Der obere, linke Kreis in jedem Diagramm (Abb. 3a, hier der Ausschnitt für den Sommertag) stellt eine Erdkugel dar, auf die der Breitengrad 52º40’ (Lage Bernaus) sowie der Sonneneinfallswinkel relativ zur 23º30’geneigten Erdachse aufgezeichnet ist. Der darübergelegte kleinere Kreis repräsentiert eine Aufsicht des Breitengrads, auf den die Lage des Sonnenaufgangs im Nord-Osten und des Sonnenuntergangs im Nord-Westen konstruiert ist. Diese Aufsicht wiederholte sich dann vergrößert als oberer der beiden rechten Kreise, mittels denen Elevation und Azimut für jede einzelne Stunde geometrisch ermittelt und anschließend in die Tabelle eingetragen wurden. Es ist erstaunlich, dass diese geometrische Herleitung der Sonnenstände auf dem Wettbewerbsplan zur Darstellung kam—hätte die Tabelle nicht ausgereicht? Es zeigt aber, wie wichtig dieses Thema den Architekten war. Offensichtlich sollte die Nebeneinanderstellung der Solargeometrien und des Lageplans zeigen, dass die Baukörperkonfiguration direkt aus der Sonnenstandsanalyse resultierte.
Der Lageplan zeigt, dass sich die einzelnen Gebäudeteile entlang einer Linie aufreihen, die von Süd-West nach Nord-Ost reicht, also 45º gedreht bezogen auf die Haupthimmelsrichtungen verläuft. Durch diese Diagonalstellung sind die Schlafräume nach Süd-Ost ausgerichtet (Gäste stehen also mit der Sonne auf), der Eingang richtet sich nach Süd-West (Gäste werden also an einem sonnenbeschienenen Eingang am Nachmittag begrüßt), die Turnhalle richtet sich nach der kühleren Nord-Ost-Seite, und auch alle anderen Orientierungen beziehen sich auf den Zeitpunkt der jeweiligen Raumnutzung (Abb. 3b). Diese sorgfältige Ausrichtung der Räume auf die Nebenhimmelsrichtungen ist ein Thema, das sich im Anschluss an den Wettbewerb bei vielen Studentenarbeiten des Bauhauses wiederfindet.
Der Fokus auf Solarorientierung setzt sich auch auf den anderen Wettbewerbsblättern fort. Das Erdgeschossblatt (Abb. 4) analysiert auf der rechten Seite auf drei Grundrissen, neben kleineren Darstellungen der Sonneneinfallswinkel, wie tief die Sonne an den Tagen der Sommer- und Wintersonnenwende und der Tag- und Nachtgleiche in die Schlafräume scheint. Im oberen Winterdiagramm reicht die Sonne bis zur Rückwand des Raums, was auch für dessen natürliche Erwärmung förderlich ist. Im unteren Sommerdiagramm dagegen gelangt die direkte Sonneneinstrahlung nur bis etwa zur Mitte des Raums und zieht sich zügig zurück, heizt den Raum also nicht zu sehr auf. Herbst und Frühling nehmen eine Mittelstellung ein. In den Wettbewerbserläuterungen heißt es dazu: „Lage und Anordnung des Wohntraktes bestimmte die Absicht, ein Optimum der Besonnung aller 60 Wohnzimmer zu erreichen. […] Die Lage der Betten ist auf Grund des günstigen Sonnendiagramms errechnet. Die Fenstergröße (Dewee-Schiebefenster) und die ungewohnt niedrige Fensterbrüstung sollen den psychischen Eindruck des vierwöchigen Aufenthaltes ‘in der Natur’ beim zumeist wohl städtischen Kursusteilnehmer verstärken. Noch nie schlief er so hygienisch, lebte er so vom Tageslicht umflutet.“[17]
Die Diagramme waren offensichtlich so wichtig, dass sie bis zum realisierten und final dokumentierten Projekt mitgeführt wurden. Eine Veröffentlichung von 1931, also nach Fertigstellung der Schule, zeigt ähnliche Sonnenstandsdiagramme und Sonneneinfallswinkel für die Schlafräume (Abb. 5). Die Schlafräume haben sich aber leicht verändert: Die Fenster sind kleiner geworden, wodurch eine Nische an der Fassade entstand. Die Schränke, die im Wettbewerb in der Wandmitte angeordnet waren, passten nun in diese Nische. Die Zimmer scheinen etwas länger geworden zu sein, aber die Sonne schien im Dezember immer noch bis zur Rückwand, während sie im Juni etwa ein Drittel in den Raum reichte. Fotos zeigen zudem, dass, statt der Schiebefenster, Fenster mit mittiger Festverglasung, seitlichen Drehflügeln und einem oberen Kippflügel realisiert wurden.
Eine weitere Analyse findet sich auf dem Wettbewerbsblatt mit der Nummer 2, hier mit Darstellung der Sonneneinstrahlung in die nach Süd-West ausgerichteten Klassenzimmer. Interessant ist hier, dass für die Schulräume zunächst ein Sheddach mit nach Süd-West zeigenden Verglasungen vorgesehen war (Abb. 7). Die Analyse ist eigentlich nicht sehr vorteilhaft, denn sie offenbart, dass die Sonne im Frühling und Herbst ab 14 Uhr auf die Tafel schiene und also die Lehrkraft geblendet wäre. Ähnlich verhielte es sich im Winter um 14 Uhr und im Sommer gegen 17 Uhr. Der Erläuterungsbericht rechtfertigte diese Anordnung mit dem Argument, die Hauptunterrichtszeit sei am Vormittag.[18]
Allerdings scheint das Sheddach nicht wirklich überzeugend gewesen zu sein, denn bald nach dem Wettbewerb änderte es sich in ein Schmetterlingsdach. Außerdem drehten sich auch die Klassenräume um 90º, sodass Tafel und Lehrkraft nun an einer von direkter Sonnenstrahlung weitgehend geschützten (Süd-Ost-)Wand platziert waren (Abb. 7). Sonnen- und Tageslicht trat nun durch die nord-östlich und süd-westlich ausgerichteten Obergaden ein und reflektierte an der Deckenunterseite. Das Tageslicht wurde komplementiert mit elektrischen Strahlern, die das elektrische Licht nach oben zur Decke warfen und damit eine indirekte Beleuchtung schafften. Durch diese Veränderungen, so Meyer, verteilte sich „das Tageslicht und das Rampenlicht der Deckenstrahler indirekt und gleichmässig auf die Arbeitsflächen aller Tische.”[19]
Die zwei Beispiele der Schlafräume und der Klassenräume zeigen, wie das Bauhaus versuchte, einen analytischen Entwurfsprozess zu entwickeln und auch darzustellen. Im Vergleich mit den Berechnungen beim Wettbewerb der Petersschule erscheinen die Analysen für Bernau weniger abstrakt. Die Berechnungen der Petersschule setzten voraus, dass die Lesenden Konzepte des diffusen Tageslichts, der Beleuchtungsstärke und komplizierter Maßeinheiten kannten. In der ADGB-Schule dagegen war zwar die geometrische Herleitung der Sonneneinstrahlung nicht unbedingt für jeden nachvollziehbar, dafür aber die Darstellung der Sonnenstrahlenfelder auf den Fußböden ein Bild, welches die Betrachter aus eigener unmittelbarer Erfahrung kennen konnten. Allerdings hat diese geometrische Methode auch ihre Grenze, denn man kann mit ihr nur direkte Sonneneinstrahlung, aber kein indirektes, diffuses Tageslicht darstellen. Letzteres aber stellte sich in den Klassenräumen als bevorzugte Belichtungsweise heraus, denn, so Wittwer, das „diffuse (zerstreute) Tageslicht ist das beste Arbeitslicht, direkte Sonneneinstrahlung muss dafür vermieden werden“.[20] Für die Schmetterlingsdecke finden sich daher in späteren Zeichnungen keine weiteren Sonnenverlaufsanalysen. Am Bauhaus wurden beide Analyseverfahren—die Berechnung der Beleuchtungsstärke bei diffusem Tageslicht und die geometrische Herleitung der Sonneneinstrahlung—weiter studiert, wobei die Belege für letztere Methode weitaus zahlreicher sind.
Insgesamt zeigt der Vergleich der Wettbewerbs- und Realisierungspläne, dass die Rekonfiguration der Schlafräume und die Reorientierung der Klassenzimmer einschließlich ihrer neuen Deckenform zu einer Verbesserung in Bezug auf Tageslichtnutzung führte. Die Sonnenstudien werden ihren Anteil daran gehabt haben. Auch wenn keine weiteren Sonnenstudien für andere Räume in der ADGB-Schule vorliegen, kann man weitere Veränderungen, die mit Tageslicht zu tun haben, zwischen Wettbewerb und Realisierung entdecken. Zum Beispiel war die Aula im Wettbewerb mit einer „deckenkonstruktion in eisenbeton mit glasbausteinen“ konzipiert (Abb. 6). Realisiert wurde aber ein Raum mit lichtundurchlässigem Dach und einem großen verglasten Obergaden an der Nord-West-Fassade. Für diesen Raum entwickelte Annie Albers einen „geriffelten Silberstoff“, der das Tageslicht reflektierte und die Akustik verbesserte: „Fast durchsichtige Zellophanfäden, watteartige weiße Chenille und dünner schwarzer Baumwollfaden wurden in unterschiedlicher Webintensität miteinander verbunden. Die wellige, metallisch glänzende Oberfläche des Stoffes konnte den Lichteinfall gezielt lenken, was sich Albers auch von der Firma Zeiss Ikon zertifizieren ließ. Die wandseitig orientierte Anbringung der wattigen Stoffschicht wirkte schalldämmend.“[21]
Ein weiteres Beispiel ist der Speisesaal, der im Wettbewerb zwei langgestreckte Oberlichter hatte, dann aber mit vier, um 90º gedrehte Bänder aus Glasbausteinen realisiert wurde. Diese sind am Eingangsbereich des Saals angeordnet, nicht aber an der Fassade, mit dem Effekt, dass der Eingangsbereich mit Zenitlicht heller erscheint als der Fensterbereich mit Seitenlicht. Der Speisesaal öffnet sich mit großen Glasflächen zu See und Wäldchen und auf der gegenüberliegenden Seite zum langgestreckten Erschließungsflur. Dieser wiederum ist mit einer Glasbausteinwand geschlossen, der zwar Tageslicht durchlässt aber trotzdem einen Sichtabschluss bildet. Die Glasfassaden sowie die Glasbausteinelemente an Decke und Flurwand lassen komplexe Verschränkungen zwischen Räumen und zur Umgebung um den Speisesaal entstehen.
Auch die farbliche Gestaltung der Schlaftrakte gehört zur Geschichte der Lichtgestaltung. Den einzelnen Trakten waren die Farben rot, gelb, blau, und grün zugeordnet, die von Geschoss zu Geschoss heller schattiert waren.[22] Die Grundfarben bildeten ein Leitsystem für die Kursteilnehmenden, die auf diese Weise in vier Gruppen aufgeteilt waren und, ganz pragmatisch, leichter ihren Wohntrakt auffinden konnten. Die Farbschattierung verstärkt auf jedem Geschoss die natürliche Lichtwirkung—dunkler zum Grund hin, heller zum Himmel.
Darüber hinaus haben auch die Angestellten- und Lehrerwohnungen eine Entwurfsgeschichte, in der die einzelnen Räume zunächst nach dem Prinzip optimaler Belichtung, in der Realisierung jedoch nach dem Prinzip einer öffentlichen und einer privaten Seite angeordnet wurden. In den Grundrissen des Wettbewerbs zeigten sämtliche Individualräume nach Süd-Ost, die Wohnzimmer nach Süd-West mit vorgelagerten Hausgärten Richtung Straße. Die Nutzungszeiten für die Räume waren damit klar vorgegeben: man steht mit der Sonne auf und verbringt seine Abendstunden im besonnten Wohnzimmer (Abb. 3). Realisiert wurde eine Erschließung von der Straße aus, mit Wohn- und Individualzimmern nach der zur Straße abgewandten, privateren Seite, also nach Nord-Ost und Süd-Ost (Abb. 8). Einen Sichtbezug zur süd-westlich gelegenen Straße hat man nur von der Küche und dem Mädchenzimmer aus.
Tageslichtstudien nach der ADGB-Schule
Wittwer verließ das Bauhaus im April 1929 und Hilberseimer übernahm seine Stelle. Vor allem die geometrische Bestimmung der Sonnenstände blieb nach Wittwers Weggang ein Unterrichtsthema, dokumentiert durch überlieferte Studentenarbeiten. Blätter mit Berechnungen zu diffusem Tageslicht sind dagegen rar.[23]Inwieweit Wittwer noch involviert war, ist nicht bekannt.
Ein Übungsblatt des Bauhausstudenten Lothar Lang vom 20. Januar 1930 (Abb. 9) zeigt Zeichnungen, die den Analysen auf den Bernauer Wettbewerbsplänen ganz ähnlich sind. Auf Langs Blatt sieht man sowohl die geometrische Herleitung von Azimuten und Elevationen, als auch, auf der rechten Seite, die Gegenüberstellung zweier Räume, der eine mit einem Fenster nach Süden, der andere nach Osten, deren Sonneneinfall für verschiedene Jahreszeiten verglichen werden. Im Vergleich zu den Bernauer Zeichnungen gibt es nun neben jedem Grundriss auch die Darstellung einer Seitenwand. Hubert Hoffmanns Übungsblatt vom 20. August 1929 (Abb. 10) geht noch weiter, denn es zeigt den Grundriss und zwei Seitenwände für fünf verschiedene Ausrichtungen sowie Stundentabellen wann die Sonne in den Raum scheint und wie sich das zu den Tagesabläufen verschiedener Familienmitglieder verhält. Andere bekannte Übungsblätter aus dem Jahr 1930 sind zum Beispiel von Georg Rauh, Reinhold Rossig oder Philipp Tolziner und Tibor Weiner.[24] Man kann insgesamt also eine weitere Systematisierung der Sonnenanalysen und ihrer Darstellungen feststellen.
Die Übungen zur Orientierung von einzelnen Räumen erweiterten sich in Hilberseimers Seminaren auf städtebauliche Maßstäbe. Untersucht wurden nötige Gebäudeabstände für Mindestbelichtungen und daraus resultierende städtebauliche Konfigurationen.[25] Unter Mitwirkung der Bauhausstudenten Ernst Hegel und Günther Conrad veröffentlichte Hilberseimer, nach Schließung des Bauhauses, Ergebnisse aus diesen Studien in zwei Artikeln in der Zeitschrift Moderne Bauformen. Der erste Artikel mit dem Titel „Raumdurchsonnung“ (1935) enthielt drei Blätter mit nun schon vertrauten Sonneneinfallsstudien für einen Raum, dargestellt jeweils im Grundriss mit drei Seitenwänden (Abb. 11). Jedes Blatt ist für einen spezifischen Jahrestag (21. Dezember, 21. Juni, sowie 21. März/September); die obere Zeile jedes Blatts zeigt eine Südorientierung des Raums, die mittlere Reihe eine Ostausrichtung und die untere eine Südostlage. Dazu wurden für jeden Raum die mögliche Besonnungsdauer (in Stunden) und die Besonnungsmenge (in Kubikmeter)—in Hilberseimers Worten, die „Raumgröße des sonnendurchstrahlten Luftprismas“—errechnet. Hilberseimers Schlussfolgerung, dass „der Südlage vor allen anderen Lagen durchaus der Vorzug zu geben ist“[26], stand im diametralen Gegensatz zu der von den meisten Architekten bevorzugten Ausrichtung der Räume nach Ost und West. Der zweite Artikel, „Raumdurchsonnung und Siedlungsdichtigkeit“ (1936) forderte zunächst für Wohnräume eine Mindestbesonnungsdauer am Tag der Wintersonnenwende. Auf dieser Basis entwickelte Hilberseimer Formeln zur Berechnung von Gebäudeabständen, aus denen sich dann auch die Bevölkerungsdichte von Städten ergäbe. (Abb.12)
Hilberseimer emigrierte 1938 in die USA und lehrte, neben Ludwig Mies van der Rohe, am Armour Institute of Technology, dem späteren Illinois Institute of Technology, in Chicago. Sonnenstudien bildeten die Grundlage seiner Städtebaulehre. An der Universität wurde sogar ein „Hilbs-Day“ eingeführt, der auf den Tag der Wintersonnenwende gelegt wurde. Dieser immer noch begangene Erinnerungstag an Hilberseimer hat seinen Ursprung in den Tageslichtanalysen des Bauhauses.
[1] Christian Schädlich, Bauhaus Weimar 1919-25. Tradition und Gegenwart, Weimarer Schriften, Heft 35, Weimar 1989, insbes. S.22: „In den regulären Ausbildungsplan wurde die Baulehre erst 1927 am Dessauer Bauhaus aufgenommen.” Vgl. auch Klaus-Jürgen Winkler, Baulehre und Entwerfen am Bauhaus 1919-1933. Weimar: Universitätsverlag 2003, S. 16-25 und S. 40–57.
[2] Walter Gropius, Bauhausbauten Dessau. Bauhausbücher 12, München: Albert Langen 1930, S. 68.
[3] Vgl. z.B. Budgett Meakin, Model factories and villages: ideal conditions of labour and housing, London: T. Fisher Unwin, 1905.
[4] Die Nordfassade und insbesondere die Glasecke der Fagus-Werke verschafften Gropius erste Bekanntheit. Der zweite Bauabschnitt, dessen große Verglasung nach Osten zeigt, musste mit Sonnenstores nachgerüstet werden. So kann das Projekt der Fagus-Werke, ebenso wie das Bauhausgebäude in Dessau, als Beispiel dienen, dass Gropius weniger an richtiger Orientierung, sondern an einem neuen künstlerischen Ausdruck durch Transparenz interessiert war.
[5] Walter Gropius, Bauhausbauten Dessau, siehe Anm. 2, S. 37. Zur Kritik der Glasfassade des Dessauer Bauhausgebäudes: Zentralblatt der Bauverwaltung 47 (1927) 10: 105–110.
[6] Der erste reguläre Baukurs begann im Sommersemester 1927. Winkler 2003, S. 102.
[7]bauhaus 2 (1928) 2/3, S. 32.
[8] Vgl. Hans-Jakob Wittwer, Hans Wittwer, Zürich: gta-Verlag 1985, S.10–14. Vgl. auch Hoffmann, Hubert, “Erinnerungen eines Architekturstudenten,” in: Philipp Oswalt (Hg.), Hannes Meyers neue Bauhauslehre. Von Dessau bis Mexiko, Basel: Birkhäuser, 2019, S. 116–117.
[9] Hans Wittwer. ABC (1925) 6, S.2–3, hier 3.
[10] Hannes Meyer: “Die Neue Welt,” Das Werk 13 (1926) 7: 205–224, hier 222.
[11] ETH Zürich, gta Archiv, Nachlass Hannes Meyer. Meyer und Wittwers Projekt trug das Kennwort „Kompromiss“. Im Schweizer Wettbewerbswesen müssen Architekten bis heute ihren abgegebenen Entwürfen ein Kennwort geben. Der Titel des Gewinnerprojekts war „Südhof“ (Nr. 80, Hans Mähly) und unter den 104 abgegeben Projekten fanden sich Kennworte wie „Sonnenhof“, „Sunnigi Stunde“, „Sonnenlicht“, „Süd-Ost-Licht“, „Belichtung“, „Licht und Sonne“, „Sonnige Schulräume“, „Morgensonne“, „Sonniger Hof“. Diese Kennworte zeigen die enorme Bedeutung der Themas Licht und Beleuchtung in dieser Zeit und vor auch allem Schulbau.
[12]bauhaus 1 (1927) 2: 5. Auch hier heißt es, der Wettbewerbsort sei ein „sinnwidriger traditioneller schulhaus-bauplatz [...] anzustreben wäre ausschließliche oberlichtbeleuchtung aller schulräume“.
[13] Brief Meyer an Gropius 28. März 1927. Archiv Deutsches Architekturmuseum Frankfurt, Nachlass Hannes Meyer.
[14] Henry Harold Higbie. “Prediction of Daylight from Vertical Windows,” Transactions of the Illuminating Engineering Society 20 (1925): 433–476. Higbie, Henry Harold and Levin, A., “Prediction of Daylight from Sloping Windows,” Transactions of the Illuminating Engineering Society 21 (1926): 273–324; das Kurvendiagramm ist auf S. 299.
[15] Vgl. Hans-Jakob Wittwer, Hans Wittwer, siehe Anm. 8, S. 14.
[16] Vorträge in Wien 22.4.1929 und Basel 3.5.1929, in: Hannes Meyer. Bauen und Gesellschaft. Schriften, Briefe, Projekte, Dresden: VEB 1980, S.59. Hier verweist Meyer auch auf „sonnenforschungen“ und eine notwendige „auseinandersetzung mit dem breitengrad ! (weinbrenner/merian/newton)“. Er stellt fest, der beste siedlungsplan sei „derjenige = maximale meisterung der sonne. nicht der rente!“. Für die Fabrik zähle „gleichmässigstes arbeits-tageslicht“.
[17] Zitiert in Adolf Behne, “Die Gewerkschaftsschule in Bernau bei Berlin”, Zentralblatt der Bauverwaltung 48 (1928) 25, S. 397–402, hier 402.
[18] Ebd., S. 402: “Die Fenster der Klassenräume sind nach Südwest gerichtet, bedingt durch die Hauptunterrichtszeit am Vormittag.”
[19] Zitat in Claude Schnaidt. Hannes Meyer: Bauten, Projekte und Schriften, Teufen: Niggli 1965, 48. Vgl. auch Peter Steininger, Anja Guttenberger. Architekturführer Bauhaus-Welterbe Bernau, Berlin: The Green Box, baudenkmal bundesschule bernau e.V. 2021, S. 47: “Die besonderen Eigenschaften der Deckenform waren eine echte Innovation und fanden schließlich Eingang in eines der Standardwerke zur Architektur der Moderne, der Bauentwurfslehre von Ernst Neufert (der selbst am Bauhaus studiert hatte) aus dem Jahr 1936. Nicht zuletzt war die Seminarraumdecke eines der ausschlaggebenden Kriterien, die der Bundesschule 2017 den UNESCO-Welterbetitel verschafften.”
[20] Hans Wittwer, “Bericht an Hans Schmidt über Belichtung der Schulzimmer”. Nachlass Hans Wittwer, ETH Zürich/gta Archiv.
[21] Peter Steininger, Anja Guttenberger. Architekturführer Bauhaus-Welterbe Bernau, siehe Anm. 19, S. 38.
[22] Vgl. Hannes Meyer, Bauen und Gesellschaft, siehe Anm. 16, S. 63–66: „[...] und im Inneren der dreigeschossigen Wohnblöcke verwandelt sich die rötliche Grundfarbe im Ansteigen von Karmin zu Zinnober, zu Rosa [...].”
[23] Arieh Sharon, Tageslicht-Aufzeichnungen. Stiftung Bauhaus Dessau (ca. 1929).
[24] Georg Rauh “einfluss von lage und klima auf das haus”, Stiftung Bauhaus Dessau I 43345. Reinhold Rossig, geometrische Herleitung von Azimuten und Elevationen, Stiftung Bauhaus Dessau I 6181 G und I 6180 G. Philipp Tolziner und Tibor Weiner: „der grundriß errechnet sich aus folgenden faktoren“, in: Klaus Jürgen Winkler, Baulehre und Entwerfen am Bauhaus, siehe Anm. 1, S. 99.
[25] Zum Beispiel Gerd Balzer, Stiftung Bauhaus Dessau I 51621 und I 51622. Auch Hilberseimers Nachlass am Art Institute of Chicago hält zahlreiche Dokumente von Städtebauübungen am Bauhaus aus den 1930er Jahren, zum Beispiel von Hans Bellmann, Eduard Ludwig, Josef Pohl und Fritz Schreiber.
[26] Ludwig Hilberseimer, „Raumdurchsonnung“, Moderne Bauformen 34 (1935), S. 29–36, hier S. 29 und S. 35.